Die Fürbitte für die Entschlafenen und das Totengedenken in der orthodoxen Kirche

 

Das Totengedenken

 

Erzpriester Sergius Heitz

 

Mit Das Verhältnis der orthodoxen Gläubigen zu ihren Toten ist gekennzeichnet durch eine Verbundenheit, die den westlichen Menschen heute weitgehend fremd geworden ist. Dies zeigt sich nicht nur in den häufigen Totengedenken (Kolyba, slawisch Litia; Parastasis, sl. Pannychida), sondern ebenso in der Liturgiefeier, wo in den Diptychen regelmäßig auch der Toten gedacht wird. Dabei reichen die Formen des Totengedächtnisses in manchen Stücken bis in die Antike zurück und sind dem westlichen modernen Denken schwer zugänglich. Verständlicher werden sie vielleicht, wenn man sich ihren Denkhintergrund in vierfacher Hinsicht verdeutlicht: 

 

Da ist zunächst zu beachten, daß das Ziel des Lebens nach or­thodoxem Verständnis das Eingehen in die göttliche Lichthaftigkeit ist, d. h. in jene Sphäre der göttlichen Lichtwelt, in der alle irdische Unruhe sich auflöst. Darum betet der Priester in dem immer wiederkehrenden epikletischen Totengebet für den oder die Verstorbenen, daß er (sie) finden möge(n) „die Ruhe der Seele am Orte des Lichtes, am Orte des Ergrünens, am Orte der Erquickung, wo entflieht aller Schmerz, alle Trübsal und alle Klage“. Und in der Neunten Ode des Kanons der Entschlafenen heißt es: „Den im Glauben zu Dir Hingeschiedenen laß teilhaftig werden Deines strahlenden, göttlichen Lichtes, o Christus! Gewähre ihm die Ruhe im Schöße Abrahams und immerwährende Seligkeit, Allbarmherziger!“ 

 

Zum ändern muß nun aber sogleich hinzugefügt werden, daß der Sündenfall des Menschen ihn an der Erlangung seines Lebenszieles hindert. Darum wird auch in unseren Texten immer wieder auf Schöpfung und Fall Bezug genommen, wie beispielsweise in den Idiomela, die dem hl. Johannes von Damas­kus zugeschrieben werden, wo es im 7. Ton heißt: „Nach Deinem Bilde und zu Deiner Ähnlichkeit hast Du am Anfang den Menschen geschaffen und ihn ins Paradies gesetzt, damit er herrsche über Deine Geschöpfe. Aber durch den Neid des Teufels betrogen, kostete er von der verbotenen Speise und ward ein Übertreter Deiner Gebote. Daher hast Du ihn verur­teilt, wiederum zur Erde zurückzukehren, von der er gekommen, und von Dir die Ruhe zu erflehen, o Herr.“

 

Doch ist auch die Wende des menschlichen Geschickes durch Christi Tod und Auferstehung zu bedenken. Denn durch diese ist der Tod entmachtet worden. Darum wird auch in unseren Texten immer wieder der Überwindung des Todes durch Christi Hinabsteigen ins Totenreich gedacht, wie in diesem Irmos der Achten Ode des Kanons aus der Parastasis: „Du stiegest hinab in die unterste Tiefe und hast die in den Gräbern mit le­benschaffender Hand auferweckt ...“ 

 

Dies aber hat seine Konsequenzen für die in Christi Leib Hineingetauften: Der Tod vermag sie von nun an nicht mehr von­einander zu scheiden. Zwar gibt es für die Lebenden, die nur die sichtbare Welt wahrnehmen können, noch immer ein Ab­schiednehmen beim Tode. Aber die zur Ruhe Eingegangenen sind von ihnen nur scheinbar getrennt. Dies wird erfahren in der Gemeinschaft der Kirche, wo die Heiligen und mit ihnen alle in der Seligkeit Ruhenden mit ihrer Fürbitte und ihrem himmlischen Gottesdienst den noch im irdischen Kampf ste­henden Gliedern des Leibes Christi im Heiligen Geist verbun­den sind. So werden im Kanon der Entschlafenen immer wieder die Märtyrer angerufen. Von ihnen heißt es beispiels­weise in der Fünften Ode: „Die Märtyrer, die Dir dargebracht wurden als heilige Brandopfer und Erstlingsgaben der mensch­lichen Natur stehen für uns ein, immerdar, vor Dir, hochverherrlichter Gott“. Daß die Märtyrer für die gläubigen exemplarische Bedeutung haben, zeigt ein Tropar aus der Neunten Ode dieses Kanons: „Die Hoffnung stärkte die Scha­ren der Märtyrer und ließ sie entflammen in feuriger Liebe zu Dir. Denn sie stellten die zukünftige Ruhe allen vor Augen, die wahrhaft unzerstörbar ist…“ 

 

Auf diesem Denkhintergrund sind nun die Besonderheiten der orthodoxen Begräbnis- und Totengedenkriten zu sehen:

 

Die Ruhe der Toten ist für orthodoxes Verständnis keine Selbstverständlichkeit, sondern ein göttliches Gnadengeschenk, das erbeten werden muß und das zu erbeten, Sache der ganzen kirchlichen Gemeinschaft ist, nicht nur der unmittelbar Betroffenen. Daher ist die Bitte um Sündenvergebung ein wesentlicher Dienst der Kirche, den sie auch für ihre dahinge­schiedenen Glieder übt. So spielen beim Begräbnis von Er­wachsenen die Absolutionsgebete eine wesentliche Rolle. In den Totengedenken ist das wiederholte Priestergebet „Gott der Geister…“ letztlich auch ein Absolutionsgebet. 

 

Die Orthodoxe Kirche kennt kein Fegefeuer, in dem die durch sie auferlegten zeitlichen Sündenstrafen (Epitimien) auch noch nach dem Tode abgebüßt werden müßten. Vielmehr absolviert die Kirche im Begräbnisritus die Toten und befreit sie von allen Auflagen und von jeglichem Fluch, der sie zu Recht oder Un­recht getroffen hat. 

 

Von besonderer Eindrücklichkeit ist ferner, daß beim Begräb­nis die Makarismen (Seligpreisungen) mit eingeschobenen Troparien für den Hingeschiedenen und die, die ihn begraben, gesungen werden. So heißt es in einem dieser Tropare beispiels­weise: „Christus möge dich ruhen lassen im Lande der Lebendigen und die Pforten des Paradieses dir öffnen. Er möge dich zum Bürger Seines Reiches machen und dir vergeben, was immer du im Leben gesündigt hast, du Christusliebender!“ Die Umstehenden jedoch werden in den Makarismen an die Vergänglichkeit alles zeitlichen Glücks erinnert: „Lasset uns hinausgehen, die Gräber betrachten und sehen, was des Menschen Gebein in seiner Nacktheit ist, wie der Mensch wird zur Speise der Würmer und zum Gestank, damit wir erkennen, was Reichtum ist, was Schönheit, was Stärke, was Anmut!“ 

 

Befremdlich mag manchem erscheinen, wie stark trotz aller Glaubenszuversicht die Totenklage zu Wort kommt, insbeson­dere in den Stichira prosomoia beim letzten Kuß. Da heißt es etwa: „Welch eine Trennung, ihr Brüder und Schwestern! Welch Weinen, welch Wehklagen in dieser Stunde. Kommet nun, küsset ihn, der noch vor kurzem mit uns gewesen. Er wird nun dem Grabe übergeben, mit einem Stein bedeckt. Er ist in die Dunkelheit versetzt, zu den Toten begraben, von all seinen Angehörigen und Freunden getrennt. So lasset uns be­ten, daß der Herr ihm die Ruhe verleihe!“ Hier wird die Erlö­sung aus der Klage und von der Trennung nur gerade durch ein Bild angedeutet, nämlich durch das Bild von dem mit einem Stein bedeckten Grab, das an das Grab Christi am Ostermorgen denken läßt.

 

Mit dieser Klage ist aber auch ein Thema verbunden, das sich zur bedrängenden Anfrage an die Lebenden steigert: „Was ist unser Leben? Eine Blume, ein Dunst, wahrlich ein Morgentau! Kommet denn, lasset an den Gräbern uns fragen: Wohin ist die Schönheit des Leibes entschwunden? Wohin die Jugend? Wo­hin die Augen und die körperliche Gestalt? Alles ist verwelkt, wie Gras. Alles ist vergangen. Kommet, fallet nieder vor Chri­stus unter Tränen und bittet ihn, daß Er uns allen die Ruhe verleihe.“ 

 

In eigenartiger Weise gebrochen erscheint die Klage im Ikos nach dem Kondakion des Kanons der Entschlafenen, wo nun die Wehklage zum „Alleluja“ wird: „Du allein bist unsterb­lich, der Du geschaffen und gebildet hast den Menschen. Wir, Sterbliche, sind aus Erde geformt und müssen zurück zu dersel­ben Erde, wie Du befählest, der Du uns schufest und sprachst: Erde bist du und sollst wieder zur Erde kommen! Dahin werden wir, die Sterblichen, alle gebracht. So wehklagen wir jetzt und singen als Grablied: Alleluja, alleluja, alleluja.“ 

 

Schließlich muß noch ein Wort zum Begräbnis von Kindern unter sieben Jahren gesagt werden. Hier sind die Absolutions­gebete unnötig und daher ersetzt durch Gebete, die an die Seg­nung der Kinder durch den Herrn (Mt 19,14) erinnern und an die Verheißung, die ihnen von Christus zuteil wurde (Mk 10,15). Im Kanon und in den Stichira prosomoia werden die Klagen der Eltern und Freunde aufgenommen, so heißt es in einem der Tropare: „Wer wollte nicht klagen, mein Kind, und nicht laut betrauern die Anmut und Schönheit deines unschuldigen Lebens! Gleichwie ein Schiff keine Spur hinterläßt, bist du schnell aus unseren Augen entschwunden. So kommet denn, Freunde, Verwandte und Nachbarn, mit uns zu küssen und zu Grabe zu tragen das Kind!“ In den gleichen Stichira prosomoia wird den trauernden Eltern aber auch kräftig Trost gespendet: „Der Tod ist den Kindern ein Lebensbrunnen. Denn unverletzt von den Übeln der Welt eilen sie zu ihrem Erbteil, der himmlischen Freude In Abrahams Schoß frohlocken sie, und mit den göttlichen Chören der heiligen Kinder jubeln sie jetzt. Im Glauben der Väter feiern sie heitere Feste, weil sie dem seelenmordenden Verderben entronnen sind.“ In der Fünften Ode des Kanons werden die Trostworte schließ­lich dem Kind selbst in den Mund gelegt: „Weinet nicht über mich! Denn Beweinenswertes habe ich nicht getan. Über euch selbst vielmehr, die ihr alle gesündigt, klaget, ihr Verwandten und Freunde, ruft das entschlafene Kind, daß ihr nicht der Strafe anheim fallt.“

 

 

Das Totengedenken der Orthodoxen Kirche

 

Für die orthodoxen Gläubigen ist das Gedenken an die Toten wichtig, denn sie sind weiterhin Teil der Gemeinde, die alle Lebenden und Toten, und auch die unsichtbaren Mächte, die Engel, umfasst.

 

Die Toten sollen eben nicht vergessen werden, sondern ihr Andenken wird durcheine Reihe von Gottesdiensten für die Familien der Verstorbenen wieauch für die Gemeinde aufrecht erhalten.

 

Die Seele des Menschen ist als Geschenk Gottes unsterblich und wird nach dem Tode durch Seine Gnade wieder  mit  Ihm  vereint.

 

„Im Unterschied zu den Menschen, ‚die keine Hoffnung haben’  (1. Thessalonicher 4:13), nehmen gläubige Menschen am Grab nicht Abschied von jemandem, der ins Nichts verfällt, sondern in ein anderes Leben übergeht, das seine Vollendung am Ende der Zeiten haben  wird“.

 

 

Auch der Leib des Verstorbenen wird bei der Wiederkunft des Herrn auferstehen. „Indem wir für die Toten beten, können wir hoffen, für sie die Vergebung zu erlangen. Der heilige Johannes sagt uns in der Offenbarung,dass auch umgekehrt die Toten für die Lebenden beten können (vgl.: Offenbarung 5:8;8,3). Er vergleicht sogar ‚die Gebete aller Heiligen’ vor dem Altar mit‚ einer goldenen Räucherpfanne.

 

Der Tod zerbricht nicht die Einheit des Leibes Christi: Die Glieder der Kirche, die noch in dieser Welt kämpfen, und diejenigen, die schon ihre Krone in der anderen empfangen haben, sind Teil  des gleichen Leibes. Das ist, was wir die Gemeinschaft der Heiligen nennen.

 

Nach dem Tod eines orthodoxen Gläubigen kommt der Priester, wo das in der Diaspora möglich ist, zu einem Totengebet ins Haus. Zur Beerdigung findet ein Gottesdienst in der Kirche statt und auf dem Friedhof ein Gebet am Grab.

 

 

Es gibt zwei allgemeine Gedenktage im Jahr für die Toten, die sogenannten Seelensamstage. Der erste ist der Samstag vor dem dritten Vorfastensonntag der Großen Fastenzeit (der   Sonntag des Gerichts beziehungsweise des Fleischverzichts), der zweite ist der Samstag vor Pfingsten.

 

 

 

Aber auch an allen anderen Samstagen (mit Ausnahme des Lazarus-Samstags) wird der Märtyrer und der Verstorbenen gedacht.

 

 

 

Für den einzelnen Verstorbenen finden Totengedenken am dritten, neunten und vierzigsten Tage nach ihrem Tode statt und dann jeweilsam Jahrtag. Der dritte Tag erinnert an die dreitägige Grabesruhe des Herrn, der neunte erinnert an die neun Chöre der Engel und der vierzigste an die Himmelfahrt Christi am vierzigsten Tag nach Seiner Auferstehung.

 

 

 

 

Für das Totengedenken am Sonntag während der Göttlichen Liturgie, lassen die Angehörigen eine Prosphore, ein Opferbrot in den Altar bringen, damit der Priester Gedenkteilchen gemäß der aufgeführten Namen auf dem mitgegebenen Gedenkzettel oder aus dem mitgegebenen Gedenkbüchlein während der Proskomidie auf den Diskos legt.

 

 

Wird die Göttliche Liturgie an einem Samstag gefeiert, so gedenkt der Priester in einer besonderen Fürbitte (Ektenja) zum Ende der Liturgie der Katechumenen und während der Anaphora der zum Herrn entschlafenen orthodoxen Christen auf den beigefügten Gedenkzettel. In der Göttlichen Liturgie am Sonntag kann eine Litia gefeiert werden. Sie wird mit dem Gesang des Trishagion kurz vor dem Schluss der Göttlichen Liturgie eingeleitet und ist eine Kurzform Der Panychida (Parastas).

 

Für das Totengedächtnis wird eine spezielle Totenspeise, die im Wesentlichen aus gekochten Weizenkörnernbesteht, die sogenannte Kutja (Koliva) zubereitetet und auf den Kanoun, einem besonderen kleinen Opfertisch vor einer Kreuz-Ikone mit der Möglichkeit zum Aufstellen von Opferkerzen für das Totengedächtnis bereit gestellt. In die Koliva wird eine Kerze gesteckt und auch die anwesenden Gläubigen, Angehörigen und Freunde halten brennende Kerzen in den Händen. Nach der Litia folgt der Schlusssegen der Liturgie und dann wird auch diese Gedächtnisspeise an die Gläubigen verteilt. Dies kann durch einen der Altardiener oder einen Angehörigen erfolgen. Der Verteilende sagt: „Zum Gedenken an der Knecht Gottes (oder Die Magd Gottes)! und nennt ihre Namen. Die empfangenden Gläubigen antworten daraufhin: „Ewiges Gedenken!“ Die Bereitung der Koliva ist ein Brauch, der bis in die christliche Antike zurückreicht.

 

Findet ein Totengedenken nicht im Rahmen einer Göttlichen Liturgie statt, so wird es in der Form einer Panychida (Parastas) gebetet. Das Wort drückt den Beistand aus, den die Anwesenden beim Gebet den Leidtragenden leisten.

 

Diese Gedächtnisgottesdienste wie auch die Werke der Barmherzigkeit als Totengedächtnis sind Ausdruck der Verbundenheit und der Fürsorge für die Menschen über ihren Tod hinaus. Sie dürfen nicht als genugtuende Leistungen der Lebenden für die Toten verstanden werden, sondern als Beistand in einer fortdauernden Gemeinschaft, der in der an Gott gerichteten Bitte besteht, sich ihrer zu erbarmen. Die Liebe, die über den Tod hinaus lebt, bewahrt die Entschlafenen in lebendiger Erinnerung, genährt durch die Zuversicht, daß Gott sie in Seine himmlische Herrlichkeit aufnimmt und in Seinem ewigen Gedächtnis bewahrt. In diesem Bewußtsein schließt die eucharistische Versammlung sie nach der Wandlung in ihre Fürbitten-Diptychen ein: „... Gedenke auch aller, die in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben entschlafen sind. Schenk ihnen die Ruhe dort, wo das Licht Deines Angesichtes leuchtet.“ Darum betet der Priester für den oder die Verstorbene(n): ...„dass seine (ihre) Seele(n) Ruhe finden möge(n) ‚am Orte des Lichtes, am Orte des Ergrünens, am Orte der Erquickung, wo entfliehen aller Schmerz, alle Trauer und Klage.“

 

Vor allem aber müssen wir uns als Christgläubige die alles verwandelnde Wende des menschlichen Geschickes durch Christi Tod und Auferstehung vor Augen halten. Denn durch dieseist der leibliche und der geistliche Tod entmachtet worden. Dies aber hat Konsequenzen für die in Christi Leib Hineingetauften: Der Tod vermag sie von nun an nicht mehr voneinander zu scheiden. Zwar gibt es für uns auf Erden Lebende, die allzu oft nur die sichtbare Welt wahrnehmen, noch immer ein Abschiednehmen beim leiblichen Tode. Aber die zur Ruhe in Gott Eingegangenen sind von uns, aber auch von den Engel und Heiligen im Himmel nur scheinbar getrennt. Dies wird erfahren in der Gemeinschaft der Kirche, wo die Heiligen und mit ihnen alle in der Seligkeit Ruhenden mit ihrer Fürbitte und ihrem himmlischen Gottesdienst den noch im irdischen Kampf stehenden Gliedern des einen mystischen Leibes Christi, der heiligen orthodoxen Kirche im Heiligen Geist verbunden sind.