Die Bedeutung der Allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria im Glaubensleben und der Theologie der orthodoxen Kirche

 

Die Gottesmutter betet für uns und mit uns

Seine Heiligkeit Patriarch Daniel von Rumänien

 

Der Text aus dem Evangelium nach Lukas 1:46-55 ist in der Ostkirche bekannt als Hymnus der Gottesmutter und in der Westkirche als Magnificat (das lateinische Wort bedeutet "hochpreise" und ist das erste Wort dieses Lobgesangs). Dieser Text ist zum Gebet der Kirche geworden, weil die Gottesmutter die Erstbetende ist und ihre Gebete das Gebet der ganzen Kirche unterstützen.

 

Das Evangelium zeigt uns, dass das Gebet der Allheiligen Jungfrau Maria ihre Antwort auf den Segen Gottes ist. Gott ergreift die Initiative zur Erlösung der Welt durch Seinen Sohn, Der aus der Jungfrau Maria geboren wird, nachdem diese geantwortet hat: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“ (Lukas 1: 38)

 

Die Freude der Jungfrau Maria kommt aus ihrer Gemeinschaft und ihrem Zusammenwirken mit Gott. Ihre Demut als Dienerin des Willens Gottes ist die Grundlage ihres Glücks: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, Der da mächtig ist und Dessen Name heilig ist“ (Lukas 1: 46-49).

 

Demütig und zugleich voller Mut preist die Jungfrau Maria das Wirken und die Gerechtigkeit des Herrn in der Geschichte als Aufrichten der Niedrigen und Herabstoßen der Gewaltigen vom Thron: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lukas 1: 52-53). Gleichzeitig bindet das Gebet der Jungfrau Maria den von Gott erhaltenen Segen mit dem über dem Volk Israel ausgegossenen Segen Gottes: „Gott hilft seinem Diener Israel auf wie er geredet hat zu seinen Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit“ (Lus 1: 54-55).

 

Vom Beispiel der Allheiligen Jungfrau Maria lernt die Kirche, Gott für Sein erlösendes Wirken in der Geschichte zu verherrlichen, für die Hilfe, die sie von Ihm bekommt in der Hoffnung auf das ewige Leben. Zugleich lernt die Kirche Christi von der Allheiligen Jungfrau Maria, eine demütige Dienerin Gottes zu sein beim Werk der Erlösung der Menschen, indem sie Demut und Hoffnung vereint, geistiges Leben mit dem Durst nach sozialer Gerechtigkeit und gegenwärtigen Segen mit der zukünftigen Hoffnung.

 

In den orthodoxen liturgischen Gesängen „Geweihter Tempel und Paradies des Wortes“ genannt (Axion, Liturgie des hl. Basileios des Großen), ist die Jungfrau Maria, die Gottesmutter, durch ihre Gebete gemeinsam mit der Kirche die Quelle der Freude und der Hoffnung, die Beschützerin der Jungfrauen und der Mütter, die Patronin der Kinder und Jugendlichen, der Beistand der Alten und der Armen, die Heilerin der Kranken und die Wegweiserin der Orientierungslosen, wie in den Hymnen und Gebeten gesagt wird, die in der orthodoxen Liturgie an sie gerichtet werden.

 

Und die Prophezeiung der Jungfrau Maria: „Siehe, von nun werden mich selig preisen alle Kindeskinder“ (Lukas 1: 48) erfüllt sich in der Vielzahl der ihr geweihten Feiertage, in der Fülle der liturgischen Hymnen, der Werke der klassischen Musik wie Ave Maria, im Reichtum der Ikonen und Fresken, die das Antlitz der Jungfrau und Mutter zeigen, in der Menge der Pfarr- und Klosterkirchen sowie Kathedralen, die unter ihrem Schutzpatronat stehen.

 

Einige der christlichen Gründer der Europäischen Union aus Westeuropa haben sich gewünscht, dass ganz Europa selbst unter den Schutzmantel der Gottesmutter gestellt wird, die eingekleidet sein sollte in ein blaues Gewand und um sich herum zwölf strahlende Sterne tragen sollte wie im Buch der Apokalypse (12: 1). Leider wurde diese schöne Idee vergessen, und die blaue Farbe, die die zwölf Sterne in ihrer Mitte trägt, wird heute in einer ausschließlich säkularisierten Perspektive interpretiert, ohne religiösen Hintergrund. Trotzdem werden die Christen Europas viel in geistiger Hinsicht gewinnen, wenn sie nicht das Geheimnis der Kirche vom Geheimnis der Jungfrau Maria, der Demütigen und Barmherzigen, trennen, sondern sie mehr anrufen in ihren Gebeten für die Einheit der Christen, für die Familie und für die Gesellschaft.

 

Die theologischen Begründung der Verehrung der allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria

 

Erzpriester Igor Axyonov

 

Vater Igor ist Vorsitzender der Abteilung für Religionspädagogik und Katechese in der Diözese Wyborg. Zugleich ist er Pfarrer der Kirche des heiligen Propheten Ilja in Wyborg.

 

Die andächtige Verehrung der All-Heiligen Gottesgebärerin leitet sich von den allersten Christen her. Im Zentrum des Beitrags von Vater Igor stehen die theologischen Gründe für die Verehrung der Allaeiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria in der Orthodoxen Kirche.

 

Fast zwanzig Jahrhunderte trennen uns von dem Tag, an dem die All-Reinste Jungfrau Maria sich von den nächsten Jüngern Christi – seinen Aposteln – verabschiedete und im Todesschlaf der Nachkommen Adams ruhig entschlief und dabei ihre Seele in die Hände ihres Schöpfers und – nach der in ihrem Schoß angenommenen Menschlichkeit – auch Sohnes übergab. Sie war auch nach dem Heiland selbst die Erste unter den Menschen, die in ihrer vollen spirituell-körperlichen Natur in die Herrlichkeit Gottes eintrat und über Cherubim und Seraphim und alle einsichtsfähigen Geschöpfe Gottes gestellt wurde. Und all diese zwanzig Jahrhunderte christlicher Geschichte, in der es Siege und Niederlagen und auch offenen Kampf gegen Gott gab,
gab es den Schauer der Menschheit vor derjenigen, der die ungeteilte Kirche den Namen Gottesgebärerin gegeben hatte.


Allerdings beruht die Verehrung der Gottesgebärerin und immerwährenden Jungfrau in der Kirche nicht auf lügnerischen und vorübergehenden menschlichen Emotionen, sondern hat tiefe theologische Gründe, die unvergängliche soteriologische Bedeutung haben.


Selbst das Geheimnis der Menschwerdung Gottes, DER Fleisch geworden ist, impliziert bereits die Mutter Gottes, so wie der Heilige Johannes von Damaskus schreibt: „Gerecht und wahrlich nennen wir die Heilige Maria die Gottesgebärerin, denn dieser Name beinhaltet das ganze Geheimnis der Heilsordnung. Denn wenn diejenige, die gebärt, die Gottesgebärerin ist, dann ist auch DER von ihr geborene gewisslich Gott, aber gewiss auch ein Mensch. Denn auf welche Weise hätte Gott, der schon vor aller Zeit existierte, von einer Frau geboren werden können, wenn ER nicht Mensch geworden wäre? Denn der Menschensohn ist zweifellos ein Mensch. Wenn aber derjenige, DER von Frau geboren ist, Gott ist, dann ist der EINE und derselbe zweifellos sowohl derjenige, der in Bezug auf sein göttliches und anfangsloses Wesen vom Vater gezeugt als auch derjenige, der in den letzten Zeiten von der Jungfrau in Bezug auf sein Wesen, das einen Anfang hatte und der Zeit untergeordnet ist, also das menschliche. Dasselbe bezeichnet sowohl die eine Hypostase, als auch zwei Naturen und zwei Geburten unseres Herrn Jesus Christus.“

 

So sehen wir, dass die Christologie mit der Mariologie untrennbar verbunden ist. Es kann keine richtige Lehre über Christus ohne die richtige Lehre über die Gottesmutter geben. Selbst die Bezeichnung der Jungfrau Maria als Gottesgebärerin verweist auf die Fleischwerdung einer der Hypostasen der Heiligen Dreieinheit.


Dabei können wir nicht außer Acht lassen, dass selbst der Fakt der Fleischwerdung Gottes in sich ein Paradox darstellt, das im Rahmen der menschlichen Logik unlösbar ist. Unser Verstand sieht hier keine Unvereinbarkeit, weil er den Fakt der realen Vereinigung der zwei Naturen in der Person des Herrn Jesus Christus als ein Axiom des christlichen Glaubens anerkennt, der keiner Besinnung bedarf. Wir staunen nicht über das Wunder der Fleischwerdung Gottes, weil wir uns nicht auf sie besinnen. Für uns ist das einfach eine Gegebenheit – nicht einmal des orthodoxen Glaubens, sondern der orthodoxen Tradition.

 

Für den modernen griechischen orthodoxen Philosophen und Theologen Christos Yannaras ist der Begriff der Gottmenschlichkeit für die griechische Kultur des Denkens, die gewissermaßen Grundlage der europäischen christlichen Kultur ist, dieselbe Torheit wie auch das Kreuz Christi, wovon auch Apostel Paulus im Sendschreiben an die Korinther geschrieben hatte (1. Korinther 1: 23). „Die Griechen lehrten die Menschheit, richtig zu denken; sie erarbeiteten die definitionsbasierte Erkenntnismethode: alles, was in der Welt existiert, sei durch ihr Wesen bestimmt, als Gesamtheit der Merkmale, dank denen jedes Ding das sei, was es sei. Zum Beispiel sei eine Blume eben deshalb eine Blume, da sie einen Stengel, Blumenblätter, Kelchblätter, Staubblätter und Griffel habe; sie könne nicht etwa Beine, Flügel, Augen oder Stimme haben und doch eine Blume bleiben. Auch Gott müsse, um Gott zu sein, endlos, grenzenlos, all-wissend und all-mächtig und in seinem Leben vom niemanden und von nichts eingeschränkt bleiben. Es sei unmöglich, Gott zu sein und zugleich einen beschränkten materiellen zu Körper haben, Sauerstoff zum Atmen und Essen gegen den Hunger zu benötigen, Müdigkeit bzw. Schafbedürfnis zu verspüren oder seelische und physikalische Leiden zu ertragen.“

 

Die Unerreichbarkeit des historischen Faktes einer wirklichen und nicht nur vermeintlichen Fleischwerdung Gottes für die gewöhnliche menschliche Logik manifestierte sich in verschiedenen Häresien, gegen welche die Kirche während der vier Ökumenischen Konzile kämpfte.


Im 5. Jahrhundert propagierte Nestorius, Schüler des Theodor von Mopsuestia, der im Jahre 428 Patriarch von Konstantinopel wurde, wie sein Lehrer eine scharfe Trennung zwischen den zwei Naturen im fleischgewordenen Gott dem Wort. Theodor von Mopsuestia, so wie auch Diodoros von Tarsus, ein anderer prägender Vertreter der antiochischen theologischen Schule des 4. Jahrhunderts, lehrte über die Koexistenz von zwei getrennten selbstständigen Naturen in Christum. Die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen sei, laut Theodor und Diodor, nicht absolut, sondern relativ gewesen; der eingeborene Sohn habe im Menschen Jesus wie in einem Tempel gewohnt. In seinem Werk „Über die Fleischwerdung“ schreibt Theodor von Mopsuestia, dass die Jungfrau Maria „den Menschen im physikalischen Sinne und, nicht offensichtlich, auch Gott geboren habe. Auf natürliche Weise sei sie eine Menschengebärerin gewesen, da derjenige, der in ihrem Schoß gelegen und aus ihm entstammt habe, Mensch gewesen sei. Sie sei auch die Gottesgebärerin, da Gott in dem Menschen, der geboren wurde, gewesen sei. Er war in ihm nicht dem Wesen nach, sondern als Ergebnis einer Bewegung des Willens.

 

Anders gesagt, behauptete Theodor von Mopsuestia, dass der göttliche Logos in den Menschen Jesus eingezogen wäre, Den ER auserwählt und gesalbt hätte. Aber, wie der Heilige Mönch Johannes von Damaskus schreibt, „wurde auch König David Christus, also der Gesalbte genannt, so wie auch der Hohepriester Aaron; da sowohl die königliche Würde als auch die Priesterschaft mit der Salbung verbunden war, konnte jeder gotttragende Mensch Christus, aber nicht Gott dem Wesen nach genannt werden.“

 

Die falsche Christologie hat unvermeidlich auch zu einer falschen Mariologie geführt.

 

Patriarch Nestorius, der einen scharfen Unterschied zwischen zwei Naturen im Herrn Jesus Christus betonte und den Herrn in die „Knechtgestalt“[5] und „den Tempel desjenigen, der darin wohnt“ trennte, zog es vor, seinem Irrtum entsprechend, auch die All-Heilige Jungfrau Maria als „Christusgebärerin“ und nicht als „Gottesgebärerin“ aufzufassen, da sie nicht Gott, sondern einen Menschen geboren habe, welcher sich erst später mit dem geborenen Sohn Gottes vereinigt hätte.

 

Die Unruhen, die im Volk wegen der Haltung des Nestorius entstanden sowie die scharfe Kritik des Nestorianismus durch den Heiligen Hierarchen Kyrill von Alexandria führten zur Einberufung des dritten Ökumenischen Konzils im Jahre 431 in Ephesus.

 

Im Gegenteil zu Theodor von Mopsuestia und Patriarch Nestorius betonte der Heilige Hierarch und Erleuchter Kyrill von Alexandria, dass Jesus Christus eine ungetrennte Person, eine Hypostase ist. Die christologischen Diskussionen der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts kreisten also um die Unveränderlichkeit Gottes. Wie Erzpriester John Meyendorff schreibt: „Gott konnte zu Niemandem und zu Nichts werden. Was aber Kyrill (von Alexandria) betrifft, behauptete er, dass das ewige Wort Gottes zum Menschen geworden ist. Das Zitat aus dem Prolog zum Evangelium nach Johannes (Joh 1,14) war das Motto des Konzil von Ephesus.“


Wahrlich war Gott zu jemandem geworden, was ER vorher nicht gewesen war, also zu einem Menschen; dabei war ER aber nicht zu jemand anderem geworden, da der eingeborener Sohn Gottes und der von der Jungfrau Maria geborene Jesus ein und dieselbe Person waren, welche die zweite Hypostase der All-Heiligen Dreieinheit ist.

 

Indem der urewige Logos, Gott das Wort, in seiner Fleischwerdung die menschliche Natur angenommen hatte, hatte ER sich diese zu Eigenen gemacht und war dabei DERJENIGE geblieben, der ER schon immer gewesen war – also ewiger und unveränderlicher Gott, da ER in seiner Göttlichkeit durch seine Fleischwerdung keine Änderung durchlaufen hatte, denn seine göttliche Natur hatte sich weder geändert noch mit dem menschlichen Wesen vermischt.


Auf dem vierten Ökumenischen Konzil wurde in einer dogmatischen Glaubensbestimmung festgeschrieben, dass die zwei Naturen in Christum „unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar“ vereint sind. „Alle vier Termini, die über die Vereinigung der Naturen sprechen, sind streng apophatisch – sie beginnen mit der Vorsilbe "un". Das zeigt, dass die Vereinigung der zwei Naturen im Herrn Jesus Christus ein Geheimnis ist, das den Verstand übersteigt, und dass sie kein Wort zu beschreiben vermag. Es wird lediglich gesagt, wie die Naturen nicht vereint sind – zwecks Vermeidung von Häresien, die diese vermischen oder trennen. Aber selbst die Art der Vereinigung bleibt dem menschlichen Verstand verschlossen.“


Was aber die Benennung der All-Heiligen Jungfrau Maria als „Gottesgebärerin“ betrifft, besagt sie eindeutig, dass der von ihr in seiner Menschlichkeit geboren ist, keine menschliche, sondern eine göttliche Persönlichkeit sei. Das ist die Grundlage der ganzen Christologie und der Soteriologie, also die Grundlage unserer ganzen christlichen Zuversicht.

 

 

Wie der Heilige Johannes von Damaskus es ausdrückt, wurde von der Jungfrau Maria der fleischgewordene Sohn Gottes geboren, der nicht wie ein Prophet durch einen Akt gesalbt wird, sondern durch die Anwesenheit des Salbenden selbst; nicht infolge einer Veränderung seines Wesens, sondern infolge der hypostatischen Vereinigung, da sowohl der Salbende als auch der Gesalbte ein und derselbe war, der – als Gott – sich selbst – als Menschen – salbte. Wie könnte also diejenige, die den in ihr fleischgewordenen Gott gebar, nicht die Gottesgebärerin sein? Sie ist wirklich, im eigentlichen Sinne und wahrlich die Gottesgebärerin und Herrin, und diejenige, die
über alle Geschöpfe herrscht; die Magd und Mutter des Schöpfers ist.“


Nicht ein neuer Mensch ist aus der Jungfrau Maria in die Welt gekommen, sondern der urewige, vom Vater gezeugte, eingeborene Sohn und Logos Gottes wurde in ihrem gottesmütterlichen Schoß zum Menschen. „Die Gottesmutter“, schreibt der Heilige Ignatios (Brjantschaninow), „war jenes einzige wortbegabte Gefäß, worin Gott mit seinem eigentlichen ganzen Wesen einzog.“


Dabei ist es offensichtlich: so, wie der göttliche Rat der Dreiheit über die Schöpfung und die Errettung des Menschen durch das Kreuzesopfer der Liebe des eingeborenen Sohnes Gottes urewig ist, so ist auch die Bestimmung dieses Rates auch über die Mutter desjenigen, der von ihr durch die zweite Geburt nach der von IHM aufgenommenen Menschlichkeit geboren zu werden hatte. Ihre eigentliche Prädestination, die vor allen Zeiten bestimmt war, sondert sie aus dem Raum der menschlichen Geschichte aus und vereinigt sie mit der unveränderlichen Ewigkeit des
immerwährenden Seins der Heiligen Dreieinheit.

 

Deshalb nennt der Heilige Hierarch und Erleuchter Gregor Palamas, der die patristische Theologie verallgemeinert, die Gottesmutter die lebendige Grenze zwischen der erschaffenen Welt und dem nicht-erschaffenen ewigen Sein des dreihypostatischen Gottes und stellt sie über alle einsichtsfähigen Geschöpfe auf die der Heiligen Dreieinheit nächste Stelle. „Die Gottesmutter“, schreibt er, „ist quasi die einzige Grenze zwischen dem erschaffenen und dem nicht-erschaffenen göttlichen Sein. Und alle, die Gott sehen, erkennen auch sie – als die Stelle des Nicht-Fassbaren. Und alle, die Gott preisen, werden nach Gott auch sie besingen.“

 

In der göttlichen Fleischwerdung des Sohnes offenbarte sich der Welt der neue, zweite Adam – „der Mensch vom Himmel“ (1 Kor 15,47), wie ER vom Apostel Paulus genannt wird. Der neue Adam bringt in sich zum Himmlischen Vater im Heiligen Geist die neue Menschheit, die seine Kirche ist. Aber das Werk des neuen Adams, des neuen Hauptes der Menschheit, verlangt nach der Mitwirkung der neuen Eva, die die Sünde der alten Evas berichtigt. Und hier öffnet sich, wie Erzpriester George Florovsky betont, die doppelte Rolle der All-Heiligen Jungfrau Maria im Ereignis der Menschwerdung Gottes.

 

„Einerseits bürgt sie für die Kontinuität der Menschheit. Ihr Sohn ist nach seiner „Zweiten Geburt“ der Sohn Davids, der Sohn Abrahams und aller „Urväter“. Nach den Worten des Heiligen Hieromärtyrers Irenäus von Lyon ist Jesus „selbst zum Haupt der langen Liste der ganzen Menschheit geworden“ („ Gegen die Häresien" III, 18, 1) und hat „alle Völker, die sich von Adam verbreitet hatten, in sich vereint“ (III, 22, 3) und „in sich das uralte Geschöpf angenommen“ (IV, 23, 4). Aber andererseits hat der Herr „die neue Geburt gezeigt“ (V, 1, 3). „Er wurde zum neuen Adam.“

 

Und die neue Eva, die „in der Sünde der Urväter gezeugt und geboren worden war, bereitete sich durch ein lauteres und gottesgefälliges Leben vor“[12], nicht nur der Fleischwerdung des Gottessohnes, sondern auch der Rückkehr des menschlichen Geschlechts in den Gehorsam gegenüber Gott zu dienen. Denn, wie die Heiligen Justin der Philosoph und Irenäus von Lyon ausführten, hatte „die alte Eva keinen Gehorsam geleistet, als sie noch Jungfrau gewesen war (…) und wurde Ursache der Sterblichkeit sowohl für sich selbst als auch für das ganze menschliche Geschlecht; wohingegen Maria, die einen vorbestimmten Mann hatte, aber Jungfrau geblieben war, durch Gehorsam die Rettung für sich selbst und das ganze menschliche Geschlecht wurde… Denn das, was die Jungfrau Eva durch Untreue gebunden hatte, erlöste die Jungfrau Maria durch den Glauben.“

 

Der Heilige Nikolaus Cabasilas schrieb, wenn die All-Heilige Jungfrau Maria ihre Freiheit mitsamt ihrem Gehorsam nicht Gott zur Verfügung gestellt hätte, als sie Gott mit „Ja“ antwortete, dann wäre die Fleischwerdung des Gottessohnes nicht möglich gewesen – wegen der fehlenden göttlichen Gewalt über die Freiheit, die dem Menschen bei seiner Schöpfung mitsamt dem Ebenbild Gottes beschert worden war. „Gott warnte Adam nicht“, schreibt der Hl. Nikolaus Cabasilas, „und ER fragte auch nicht nach dessen Einverständnis bezüglich der Rippe, aus der Eva erschaffen werden sollte; sondern ER entnahm ihm das Glied, nachdem ER Adam in einen besinnungslosen Zustand versetzt hatte. Was aber die Jungfrau betrifft, hat ER sie vorher gelehrt und ihren Glauben abgewartet, bevor ER begonnen hat zu wirken. Bezüglich der Schöpfung Adams beriet ER sich mit dem Eingeborenen, indem ER sagte: "Lasset uns Menschen machen" (Genesis 1: 26). Und indem ER diesen wunderbaren, eingeborenen Berater (Jesaja 9: 6; Hebräer 1: 6) ins Universum einführte und den zweiten Adam erschuf, machte er die Jungfrau zur Miturheberin seiner Entscheidung. Und dieser ‚Große Rat‘ (Jesaja 9:6), wie Jesaja ihn nennt, wurde von Gott verkündet, durch die Jungfrau aber bestätigt. Also war die Fleischwerdung des Wortes nicht nur die Tat des Vaters, seiner Kraft und seines Geistes (…), sondern ebenso (ein Werk) des Willens und des Glaubens der Jungfrau. Denn so wie die Entscheidung über die Fleischwerdung (des Wortes) ohne Teilnahme (der Drei Göttlichen Hypostasen) nicht getroffen werden konnte, so wäre auch der (Vor-Ewige) Rat ohne Einverständnis der Makellosesten und ohne Mitwirkung ihres Glaubens nicht verwirklicht werden können.“

 

Hier sollte mit Erzpriester George Florovsky angemerkt werden, dass „das christliche Denken sich nicht immer im Raum der generalisierten Ideen, sondern in dem der Persönlichkeiten bewegt“. Deshalb ist für die Kirche das historische Ereignis der Menschwerdung Gottes zugleich ein Geheimnis der persönlichen Beziehung zwischen Gottesgebärerin und eingeborenem Sohn Gottes, der nicht nur zum Menschensohn, sondern auch zum Sohn der Jungfrau Maria geworden ist.

 

An sich impliziert die Mutterschaft die nicht-wiederholbare, einzigartige seelischkörperliche Verbindung zwischen der Mutter und dem von ihr geborenen neuen Menschen. Obwohl der Herr Jesus Christus der ewig seiende Gott war und ist, wurde er auch, indem ER Mensch wurde, zum wahrlichen Sohn seiner Mutter. Und hier, in der Frage über die Gottesmutterschaft, ist keine doketische Abschneidung des Glaubens ohne Verzerrung der christologischen Lehre der Kirche möglich. Es wäre unzulässig, in der Gottesmutter nur das Mittel zur Erreichung eines Ziels zu sehen - selbst wenn dieses so hoch wäre wie die Fleischwerdung Gottes. Die All-Heilige Gottesgebärerin ist nicht nur die Tür, durch sie der Herr in die sinnliche Welt gekommen ist, sondern seine wahre Mutter. Der Hl. Mönch Johannes von Damaskus betont, indem er die Orthodoxie der Christologie ausdrückt, dass der eingeborene Sohn Gottes „durch sie nicht wie durch einen Kanal hindurchgangen ist, sondern von ihr das uns wesensgleiche Fleisch angenommen hat“, „das Fleisch, das beseelt und sowohl mit Verstand als auch mit Sinn gesegnet ist; deswegen sprechen wir eben (…) über Gott, DER Mensch geworden ist.“

 

Dieses Verständnis der Fleischwerdung Gottes verlangt von uns die Anerkennung der Wirklichkeit und Fülle der persönlichen Beziehungen zwischen der All-Heiligen Jungfrau Maria und ihrem göttlichen Sohn. Mehr noch, es scheint, dass die Wahrhaftigkeit der gottesmütterlichen Beziehungen zwischen der Gottesgebärerin und dem Jesuskind jenes verbindendes Element zwischen dem Gebäude der ganzen Kirche Christi, „welche sein Leib ist“ (Epheser 1: 23), und ihrem Grundstein (Matthäus 21: 42) und dem Haupt (Epheser 1: 22) Jesus Christus ist.

 

Warum? Weil die Freiheit des menschlichen Herzens die Unmöglichkeit der automatischen Erlangung der Göttlichen Gnade durch den Menschen voraussetzt. Für den Menschen ist es notwendig, selbst zu beginnen, seinen Schöpfer zu lieben, „aus seinem ganzen Herzen und aus seiner ganzen Seele und aus seinem ganzen Verstande und aus seiner ganzen Kraft (Mk 12,30-31), um die Fähigkeit zu erlangen, die Gnade Gottes in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen. Für den Menschen ist es notwendig, nachdem er in seinem Sündenfall seinen Schöpfer abgelehnt hatte, sich mit seinem Herzen, oder, in der Sprache des Personalismus, mit seiner Persönlichkeit an Gott zu wenden, um das ewige Leben in der Vereinigung mit nicht nur seinem Schöpfer, sondern auch Erlöser zu erlangen. Denn die Ursache des Menschen ist nicht seine Natur, er ist nicht „erschaffen“, wie die anderen Geschöpfe „nach der Art der Erde“, und der Modus seines Seins ist nicht auf seine „Art“ eingeschränkt (Genesis 1: 24-25), sondern er ist vor allem „gemacht“ (Gen 1,26), und zwar durch den gemeinsamen Willen des Rates der Drei Hypostasen [Gottes] nicht wie die Natur, sondern wie die Persönlichkeit, deren Art des Seins jener Rat der Drei Hypostasen ist, DER ihm bestimmt hatte, zu sein.

 

„Gott beschenkte den Menschen mit der Fähigkeit, eine Persönlichkeit zu sein“, schreibt der griechische Philosoph Christos Yannaras, „also sein Leben nach dem Modus des göttlichen Seins zu verwirklichen… Gott ist Gott, weil ER eine Persönlichkeit ist, und seine Existenz von nichts anderem abhängt, weder von der Natur noch von dem Wesen… Diese Fähigkeit der personalen Existenz prägte Gott eben in die menschliche Natur ein.“

 

Mit anderen Worten: der Mensch ist von Anfang an als Person in der unbegreiflichen Gemeinschaft der drei göttlichen Personen gemacht worden, und bekam die durch Gott geschaffene Natur zur Beherrschung, um durch sie zu wirken und sich durch dieses Wirken als Persönlichkeit zu manifestieren und durch die persönliche Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott, dessen Sein weder Anfang noch Ende hat, für die ihm zur Beherrschung gegebene Natur (sowohl für die eigene als auch für die gesamte materielle Schöpfung) selbst ein erschaffener Gott zu sein. Mit einem Unterschied: nicht ein Gott, der der Natur das Leben gibt, da der Mensch in sich selbst kein Leben hat, sondern [ein Gott], der sie durch sich selbst zum Leben bringt, indem er in der hypostatischen Gemeinschaft mit seinem und ihrem Schöpfer vereint bleibt. Vladimir Lossky schreibt über die menschliche Persönlichkeit: „dieses Bild Gottes im Menschen ist die Freiheit des Menschen in Bezug auf seine Natur“.

 

Also bedeutet das, dass eben das Herz des Menschen, die Vorliebe seiner Bevorzugung, oder, in der Sprache des Personalismus, die Ausrichtung der Persönlichkeit des Menschen, nicht nur das Bild seines Seins, sondern auch den Zustand seiner Natur bestimmt. Da es für die Persönlichkeit, die nach ihrer ontologischen Struktur dialogisch ist, unmöglich wäre, im Prozess ihrer Eröffnung weder einen Adressaten noch ein Ziel zu haben, ist es eben die Spiritualität, die den seelisch-körperlichen Zustand des Menschen bestimmt.

 

Als Beispiel könnten die Worte des Apostels und Evangelisten Johannes dienen, mit denen er die Erörterung des ganzen Mysteriums der Weltheilsordnung beginnt, indem er in den allerersten Worten seines Evangeliums die vorewigen Beziehungen zwischen Vater und dem Sohn beschreibt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Johannes 1: 1). Im griechischen Text lautet die Wendung, die auf Russisch [und Deutsch] als „bei Gott“ übersetzt ist, „προςτονθεον“; vor dem Wort „Gott“ steht dort die Präposition „προς“ mit Akkusativ, was, wie Bischof Cassian (Bezobrazov) in seiner Auslegung des Johannesevangeliums anmerkt, in moderne Sprachen kaum übersetzbar ist. „Das slawische ‚zu Gott‘ ist wortwörtlich, aber unverständlich… Das russische [und deutsche] ‚bei‘ ist zu schwach. Das in der neuen [russischen] Übersetzung vorgeschlagene ‚mit Gott‘ ist besser, aber gibt die Idee des griechischen Originals auch nicht erschöpfend wieder. ‚Προς‘ mit Akkusativ stellt in der übertragenen Bedeutung das Streben einer Person zu einer anderen dar; mit anderen Worten, die Vereinigung, die es ausdrückt, ist eine Vereinigung der Liebe.“ Daraus folgt, dass der Sohn nur in der persönlichen Beziehung der Liebe, die auf Gott den Vater ausgerichtet ist, und nicht selbst an und für sich existiert. Dieses Sein in der Sohnesliebe zu Gott, die das Einzige ist, was es uns ermöglicht, mit Gott und in Gott zu sein, und in Gott einander zu lieben, und selbst göttlich zu werden – dadurch, dass wir in der Vereinigung in Liebe mit dem Einen Gott und Vater verbleiben – ist eben das, wozu uns der Schöpfer berufen hat.

 

Doch ist der Mensch gefallen. Und sein Fallen war nicht einfach der Abfall von Gott; denn weil Gott das Leben und der Ursprung alles Seienden ist und es keinen anderen Gott als IHN gibt, stürzte der Mensch, nachdem er Gott abgelehnt hatte, in seine Geschaffenheit hinunter, in die Verweslichkeit und Sterblichkeit, da der Mensch, der ein erschaffenes Sein darstellt, in sich keine ontologische Grundlage hat. „Nur die All-Heilige Dreieinheit gewährt uns dir Existenz als Persönlichkeiten“. Außerhalb der Beziehungen der Einheit in Liebe mit der Drei-Hypostatischen Quelle und der Grundlage unseres persönlichen Seins fällt der Mensch in seine Natur hinunter, bzw., wie Metropolit Johannes (Zizioulas) schreibt, in die „Hypostase des biologischen Seins“.

 

Der „Mechanismus“ dieses Sturzes in die eigene Geschaffenheit ist ziemlich ausführlich bei Lossky in seinem Werk „Dogmatische Theologie“ dargestellt. „Nachdem die menschliche Natur sich von Gott entfremdet hat, wird sie unnatürlich und naturwidrig. Der plötzlich umgekippte Verstand des Menschen spiegelt in sich statt der Ewigkeit nur mehr die formlose Materie; die ursprüngliche Hierarchie im Menschen, welcher vorher für die wohltuende Energie [Gottes] offen gewesen war und sie in die Welt zurückgestrahlt hatte, ist umgekippt. Der Geist hätte von Gott leben sollen, die Seele von dem Geist, und der Leib von der Seele. Doch nun beginnt der Geist an der Seele zu schmarotzen und dabei die nicht-göttlichen Werte zu verzehren, ähnlich jener autonomen Güte und Schönheit, die die Schlange dem Weibe eröffnet hatte, als sie dessen Aufmerksamkeit auf den Baum gelenkt hatte. Die Seele wird ihrerseits zum Schmarotzer des Körpers – es brodeln die Leidenschaften. Und schließlich wird der Körper zum Schmarotzer des irdischen Universums; er tötet, um sich zu ernähren und bringt so den Tod.“

 

Nachdem der Mensch, indem er Gott verwarf, in eine parasitische (so Lossky) Lebensweise verfiel, verwandelte sich die Liebe als Weg der persönlichen Verwirklichung der Freiheit des Seins; indem ihr die kenotische Eigenschaft des sich veräußernden Opferwillens verlorengeht, verwandelt sie sich in den unersättlichen Drang, zu beherrschen und zu konsumieren. Und deshalb vermag weder der seelische (in den höchsten Äußerungen der Liebe) noch der leibliche Wunsch, die Schönheit und das Gute des Anderen zu beherrschen, einem anderen Leben seelisch oder fleischlich einen Anfang zu geben. Und so zeugen Adam und Eva, die nach dem Bilde und dem Gleichnis Gottes (Genesis 1: 27; 5: 1) erschaffen wurden, einen Sohn „in ihrem Gleichnis, nach ihrem Bilde“ (Genesis 5: 3).

 

Doch kann das Bild des persönlichen Seins im Menschen nicht endgültig zerstört werden. Die Dialogizität, die in seiner ontologischen Struktur angelegt ist, kann auch durch den Bruch der persönlichen Beziehungen der Liebe zum Urbild nicht verloren gehen; aber das Bild Gottes im Menschen wird infolge der Veränderung der Orientation seiner Persönlichkeit verzehrt. Der Mensch beginnt sein Dasein nicht nur außerhalb Gottes und ohne Gott zu verwirklichen, sondern auch in der unersättlichen, pathologischen Gerichtetheit auf die erschaffene Welt anstatt auf seinen Schöpfer. Doch wie wir bereits gesagt haben, kann das Bild des persönlichen Seins im Menschen, der von Anfang an nach dem Bild des Drei-Hypostatischen Gottes als Persönlichkeit erschaffen wurde, durch keine Sünde ausgelöscht werden. Und „ein über die Persönlichkeit verfügendes Wesen“, so Lossky, „ist fähig, jemand [anderen] mehr als seine eigene Natur und mehr als sein eigenes Leben zu lieben“.

 

Besonders deutlich äußert sich diese Fähigkeit beim Menschen, insbesondere bei der Mutter, in der uneigennützigen, aufopfernden Liebe zu den eigenen Kindern. In ihren höchsten Äußerungen erreicht die Mutterliebe nicht nur volle Selbstidentifikation mit dem eigenen Kind, sondern auch den aufopfernden freiwilligen Verzicht auf das eigene Wohl und sogar das eigene Leben. Indem die Mutter denjenigen, der von ihrem Leib und Blut zu existieren beginnt, liebt, überträgt sie, während die andere Existenz sich in ihr entwickelt, das Zentrum und den Sinn ihres Lebens auf denjenigen, der in ihr bereits als Existenz, die in Bezug auf sie eine andere ist, wächst. Die Mutter ist also, ähnlich wie der göttliche Logos, in einer persönlichen Beziehung der Liebe, die auf Gott den Vater ausgerichtet ist, ebenso wie ihre Existenz sich nicht an und für sich verwirklicht, sondern indem sie die Fesseln des Geschaffenseins und der biologischen Angst der eigenen Sterblichkeit überwindet und nun für jemand anderen lebt, der, auch wenn er seine Existenz in ihr begonnen hat, doch ein anderes Sein und eine andere Persönlichkeit darstellt.

 

Nachdem die All-Heilige Jungfrau Maria also gelernt hatte, Gott aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele, aus ganzem Verstand und aus ganzer Kraft zu lieben, und als sie ihr ganzes Leben und sich selbst ihrem Schöpfer gewidmet und als Gabe seinen von ihrem Fleisch genommenen Sohn erhalten hatte, lebte sie nur durch und für IHN und verwirklichte so den Modus des Seins, zu dem der Mensch, der nach dem Bild Drei-Hypostatischen Gottes erschaffen ist, berufen ist.

 

Aber da, laut dem Heiligen Irenäus von Lyon, die Gottesmutter und Jungfrau in sich selbst, in ihrer Persönlichkeit die gesamte alttestamentliche Menschheit und alle Vorfahren des gefallenen Adam repräsentierte, kann gesagt werden, dass sich in ihr die Menschheit mit ihrem Herzen und mit ihrer Liebe dem Schöpfer zuwandte, der sich um unserer Rettung willen sogar zu einem schutzlosen Kleinkind herabgewürdigt hatte, das sich der mütterlichen Liebe des durch IHN erschaffenen und IHN dennoch ablehnenden Menschen hingibt.

 

Und nicht nur die alte Menschheit wird über die All-Heilige Gottesmutter zu Gott gebracht. Auch die Neutestamentliche Kirche kommt zur Vereinigung mit Gott und sammelt sich in der Kirche, „welche der Leib Christi ist“ (Epheser 1: 23) und in der Heiligen Kommunion des Leibes und des Blutes unseres Heilandes.

 

Und wie der Heilige Erleuchter und Hierarch Theophan der Klausner schreibt, „werden wir des wahren Leibes und des wahren Blutes Christi teilhaftig, die in der Fleischwerdung von den ganz makellosen Blüten der All-Reinen Jungfrau und Gottesgebärerin herstammen. Also wurde in der Fleischwerdung, die sich in der Stunde von Mariä Verkündigung erfüllte, der Beginn des Mysteriums des Leibes und des Blutes gelegt… Kinder ernähren sich von Muttermilch, und wir ernähren uns von Leib und Blut, die von der All-Heiligen Jungfrau Gottesgebärerin stammen.“

 

Wie bereits erwähnt, ist die Wahrhaftigkeit der gottesmütterlichen persönlichen Beziehungen zwischen der Gottesgebärerin und Jungfrau und dem Jesuskind eben das verbindende Element zwischen der „Braut“ (Offbarung 21: 2; Galater 4: 26) – der Kirche Christi, „welche sein Leib ist“ (Epheser 1: 23), den ER von der All-Reinen Gottesgebärerin und Jungfrau angenommen hatte, und seines, nach dem bildhaften evangelischen Wort, himmlischen „Bräutigam“ (Matthäus 9: 15) – dem Herrn Jesus Christus.

 

Hier eröffnet sich die faszinierende Verbindung zwischen der Gottesgebärerin und Jungfrau und der Kirche – der Braut Christi. „Die Mutter Kirche und die Mutter Gottes“, schreibt Erzpriester George Florovsky, „gebären gemeinsam das neue Leben“. Deshalb erscheint die All-Heilige Jungfrau und Gottesmutter in theologischer Sicht nicht mehr nur als Gottesmutter, sondern als Mutter aller Christen, die zum ewigen Leben in Gott im zentralen Geheimnis der Kirche – der Heiligen Eucharistie – wiedergeboren sind.

 

Deshalb fleht die Kirche, welche die Jungfrau Maria über alle einsichtsfähigen und freien Geschöpfe Gottes stellt, sie in Gebeten an, nicht etwa zu Gott für uns zu beten (wie die anderen Heiligen), sondern bestätigt durch die Fürbitte „All-Heilige Gottesgebärerin, rette uns“ ihre einmalige und einzigartige Position in der Schöpfung, nämlich nicht nur die wahre Gottesgebärerin, sondern auch die wirkliche Mutter des christlichen Geschlechts zu sein, das in seiner Einheit den Leib Christi bildet, über die Teilhaftigkeit am Leib und Blut Christi, die ER von seiner irdischen Gebärerin angenommen hat.

 

Die Verehrung der Allheiligen Gottesgebärerin

und Immerjungfrau Maria

in der orthodoxen Kirche

 

 

Im orthodoxen Glaubensbekenntnis bekennen wir:

 

„Der (das ist Christus) für uns Menschen und um unseres Heilen willen von den Himmeln herabgestiegen ist und Fleisch angenommen hat aus dem Heiligen Geist und Maria, der Jungfrau, und Mensch geworden ist."

 

Dieser Abschnitt umschreibt den heilsgeschichtlichen Grund für die herausragende Stellung der Immerjungfrau Maria im Glaubensleben und in der Theologie der orthodoxen Kirche.

 

Die orthodoxe Theologie kennt im Grunde keine eigenständige "Mariologie", wie sie die lateinisch-abendländische Christen zuerst entworfen und dann infolge der protestantischen Reformation in großen Teilen auch wieder verworfen haben. Obwohl die Reformatoren Luther und Calvin die Rolle Marias in Predigten durchaus gewürdigt haben, hat das Marienlob für die Frömmigkeit der meisten heutigen evangelischen Christen keine ernsthafte Bedeutung.

 

Für uns orthodoxe Christen ist die Verehrung der Allheiligen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria auf das Engste mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus verbunden. Da sie die Mutter Christi, die Allheilige Gottesgebärerin ist, folgen wir der Weisung des Magnificat „Von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter“ (Lukas 1:48). Als der Erzengel Gabriel zu ihr gesandt wurde, um ihr zu verkünden, dass sie die Mutter unseres Herrn werden sollte, begann er mit den Worten: „Gegrüßt seist du, Du bist voll der Gnade; der Herr ist mit dir; du bist gesegnet unter den Frauen“ (Lukas 1:28). Und weiter sprach er: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. Siehe, du wirst in deinem Schoß empfangen und einen Sohn gebären und Ihm den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und der Sohn des Allerhöchsten heißen“ (Lukas 1:30-32).

 

In den Hymnen und Gebeten der orthodoxen Kirche erklingt immer wieder und wieder ihr Lobpreis, die dem Erzengel ihre Zustimmung mit den Worten gegeben hat: „Siehe ich bin des Magd des Herrn. Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lukas 1:38)  So ist alles orthodoxe Reden über die Gottesmutter vom anbetend-liturgischen Lobpreis der Inkarnation des Eingeborenen Sohnes Gottes Jesus Christus im Leibe der Allreinen Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria geprägt. Dieser liturgische Lobpreis, der das Heilsmysterion der Inkarnation anbetend betrachtet, seine Worte und Bilder, sind die Basis der orthodoxen theologischen Rede über die Allheilige Mutter Gottes. 

 

Auch die dogmatische Lehre der orthodoxen Kirche spricht über die Allheilige Immerjungfrau Maria immer zutiefst christologisch, vom Mysterion der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus  her. Wenn wir orthodoxen Christen Maria mit den Worten des Dritten Ökumenischen Konzils in Ephesus Gottesgebärerin nennen und damit ihre Stellung in der Heilsökonomie Gottes umschreiben und wenn wir orthodoxen Gläubigen die Gottesmutter und stetige Jungfrau Maria preisen und verehren, dann allein deshalb, weil sie die Mutter des menschgewordenen Sohnes Gottes ist. Deshalb ist der Lobpreis der Gottesmutter Maria in der orthodoxen Kirche niemals vom Lobpreis des Mysterions der Inkarnation Gottes zu trennen. In den Hymnen der Kirche, auf den heiligen Ikonen, in den Gebeten der Heiligen Liturgie, in den Texten der Hymnendichter: immer kommt Maria als die Mutter des menschgewordenen Gottes Jesus Christus vor. Selbst dort, wo die Gottesmutter auf den heiligen Ikonen einmal ohne den Christus-Emmanuel-Knaben dargestellt ist (wie in der Apsis-Kuppel vieler orthodoxer Kirchen), wird sie in ihrem Eintreten und ihrer Fürbitte für uns bei Christus dargestellt. Die allheilige Gottesgebärerin führt uns durch ihr Beispiel, ihre Fürbitte, Beistand und Hilfe immer zu Christus hin. Denn unser Herr und Erlöser und Gott Jesus Christus ist das Haupt der Kirche und Maria ist die Mutter der Kirche und ihrer Gläubigen. Wir gläubigen orthodoxen Christen wissen uns beständig unter ihrem mütterlichen Schutz und Schirm.

 

Das  geistliche Leben der orthodoxen Kirche, das sich während der Feier der Göttlichen Liturgie und der übrigen Gottesdienste in den heiligen Ikonen die wir schauen, in den gesungenen Hymnen, Kanones und Gebeten die wir sprechen und singen und in den Akafisten, geistlichen Lieder und Dichtungen, die wir hören verlebendigt und rechtgläubig ausdrückt, in dieser ganzheitlichen gottesdienstlichen Verkündigung erfährt der orthodoxen Gläubigen die Fülle des Heilsmysteriums Gottes. Und in diesem göttlichen Heilsplan hat die allheilige Gottesgebärerin Maria von der Seite des Menschengeschlechtes her eine entscheidende Rolle gespielt. Nach orthodoxem Verständnis ist der freie Wille des Menschen durch den Sündenfall zwar verdunkelt, aber nicht aufgehoben worden. Gottes Heilshandeln an uns vollzieht sich immer synergetisch (= im Mit- und Zusammenwirken des Menschen an der handelnden Gnade Gottes). Die göttliche Gnade wird wirksam durch die willentliche Zustimmung des empfangenden Menschen. Wir werden nicht gegen unseren freien Willen erlöst. Gott respektiert die uns bei der Schöpfung geschenkte menschliche Freiheit.

 

„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einer Frau…“ (Galater 4:4). Das „Ja“ Marias zum Heilsplan Gottes geschieht durch ihr Wort an den Erzengel Gabriel: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort". (Lukas 1:38). Durch diese Worte hat die Allheilige Gottesgebärerin Maria nicht nur zu ihren eigenen Heil, sondern zum Heil aller Menschen mit dem Heilsplan und dem Heilshandeln Gottes zusammengewirkt. Diese Tat des Mädchens Maria aus Nazareth wird in der orthodoxen Kirche in den vielfältigen poetischen Bildern der kirchlichen Gesänge wieder und wieder selig gepriesen.

 

Deshalb wird die Allheilige Immerjungfrau und Gottesgebärerin Maria auch im Zentrum  aller orthodoxen Gottesdienste, der heiligen Anaphora der Göttlichen Liturgie, wenn sich durch die Epiklese die eucharistischen Gaben in den Kostbaren Leib und das Allheilige Blut Christi verwandeln, gelobt und gepriesen. Nach der Wandlung der Gaben betet der Priester: "Wir bringen diesen geistigen Gottesdienst auch dar für die im Glauben Ruhenden, die Vorväter, Väter, Patriarchen, Propheten, Apostel Verkünder Evangelisten, Märtyrer Bekenner, Asketen und für jeden gerechten Geist, der im Glauben vollendet ist. Vornehmlich für die Allheilige, über alles gesegnete und ruhmreiche Herrin, die Gottesgebärerin und Immerjungfrau Maria.“ Im Anschluss singen Chor und Gemeinde: „Wahrhaftig würdig ist es Dich selig zu preisen, Gottesgebärerin, immer selig Gepriesene und Allmakellose und Mutter unseres Gottes. Die Du geehrter bist als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim, die Du unversehrt Gott, das Wort, geboren hast,  in Wahrheit Gottesgebärerin, Dich preisen wir hoch.“

 

So wird die orthodoxe Verehrung der Gottesmutter durch zahlreiche Hymnen; Akafiste und Kanonhymnen zum Ausdruck gebracht. In ihnen preist der Gläubige auf unmittelbare Weise die Mutter der Herrn, auf deren Schutz, Beistand und Hilfe er von Herzen vertraut. Besonders hervorzuheben sind hierbei der Hymnus Akathistos (griechisch: O Ακάθιστος ύμνος) , der das ganze Heilsmysterium betrachtet, zu dem die Allheilige ihren entscheidenden Beitrag gegeben hat und der kleine Trostkanon an die Gottesmutter (griechisch: Παράκλησις = "Paraklesis"), der ein tiefer Ausdruck des gläubigen Vertrauens der orthodoxen Christen auf die Hilfe und den Beistand in Krankheit und Not durch die Muttes Gottes ist.

 

Diese innige Beziehung der Orthodoxen zur Muttergottes spiegelt sich auch im Kreis der Marienfeste, die die orthodoxe Kirche im Laufe des kirchlichen Jahres begeht:

 

1) Die Geburt der Gottesmutter am 08 September

2) Die Einführung Mariens in den Tempel am 21 November

3) Die Verkündigung an die Gottesgebärerin am 25 März

4) Die Entschlafung der Gottesgebärerin am 15 August.

5) Das Fest Mariae Schutz und Fürbitte (Prokov) am 01. Oktober

 

So wird die Allheilige Mutter Gottes in der Frömmigkeit und der Theologie der Orthodoxen Kirche in besonderer Weise geehrt. Das 7. Ökumenische Konzil hat es im Jahre 787 in seine vierten Sitzung in die folgenden Worte gefasst: "Wir wurden gelehrt, zu ehren und zu preisen zunächst und vornehmlich und wahrhaftig die Gottesmutter, die höher ist als andere himmlische Kräfte, die Heiligen und Himmelskräfte, die seligen Apostel, Propheten und alle, die um Christi willen den Märtyrertod finden. Wie wurden gelehrt deren Fürbitten anzuflehen, weil sie uns mit dem König aller, Gott, in eine familiäre Gemeinschaft bringen…".

 

Hieran wird deutlich, dass in der orthodoxen Kirche der δόξα (= "Doxa"), also die rechtgläubige Verherrlichung im Zentrum aller Rede über die Mutter Gottes steht. Diese Verherrlichung hat ihren Sitz im Gebet und Hymnengesang der Göttlichen Liturgie und der übrigen orthodoxen Gottesdienste. So gibt es in der Orthodoxie keine Trennung zwischen dem theologischen Denken und dem Gebet der Kirche. Orthodoxes Leben und rechter Glaube, theologische Betrachtung und kirchlich-gottesdienstliches Leben, kirchliche Lehre und gläubige Praxis sind immer eins. Sie gehören alle untrennbar zusammen.

 

Alle Mysterien des Heiles, alle Heiltaten Gottes, alle Heilige Personen - und an ihrer ersten Stelle die Muttergottes - unterwirft die orthodoxe Kirche nicht der kalten Analyse der am Ende doch immer nur unzulänglichen menschlichen Weisheit, sondern die orthodoxe Kirche nimmt sie hinein in das Gebet, die Anbetung Gottes, die gläubige Bewunderung, den geisterfüllten Jubel, die geistliche Betrachtung, die tiefe Verehrung und die liturgische Feier.